In NRW beginnt am 20. August das neue Schuljahr. Mit diesem Datum haben SchülerInnen der Klassen 1 bis 5 einen Rechtsanspruch auf die inklusive Beschulung in allgemeinbildenden Regelschulen. Die Verunsicherung bei Eltern, Schülern und Lehrern ist groß, denn mit diesem Projekt betreten die deutschen Schulen Neuland. Kann das Experiment gelingen?
Die Schulministerin des Landes NRW, Sylvia Löhrmann, ist hinsichtlich des Erfolgs zuversichtlich. Sollte die Reform doch nicht auf die gewünschte Weise funktionieren, könnte ja nachgebessert werden, so ihre Mitteilungen zum Thema an die Presse. Angesichts derartiger Äußerungen fühlen sich viele Eltern und Schüler als Versuchskaninchen missbraucht, auch Udo Beckmann, Chef des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), klagt über die schlechte Vorbereitung der Schulen. Die Lehrer seien nicht ausreichend vorbereitet auf die neue Herausforderung, nun auch behinderte Kinder beschulen zu müssen – die Lehrer selbst trauen sich diese Aufgabe nicht zu. Die Verunsicherung ist groß und viele Beteiligte würden das Experiment schon vor dem Start am liebsten wieder abbrechen.
Warum Inklusion notwendig ist
Dies ist natürlich nicht möglich, denn schließlich hat die Bundesrepublik Deutschland bereits 2006 die Behindertenrechtskonvention ratifiziert – und damit auch unterschrieben, dass Behinderte die gleichen Rechte und Chancen auf Bildung haben wie Nichtbehinderte. Eigentlich eine völlig selbstverständliche Aussage, die doch angesichts des zerklüfteten deutschen Schulsystems bislang noch nicht in die Tat umgesetzt wurde. Da gibt es separate Schulen für körperlich Behinderte, für geistig Behinderte, für lernschwache und sozial auffällige Kinder – all diesen Sonder- und Förderschulen ist gemein, dass die Kinder zwar gesondert von speziell ausgebildeten Fachkräften gefördert werden, aber später keine Chance auf höhere Bildung, geschweige denn auf eine Ausbildung bzw. einen Job in der freien Wirtschaft haben. Wer einmal Förderschüler war, dem gelingt der Sprung auf eine Regelschule – und damit die Chance auf Bildung und Teilhabe – nur sehr selten. Inklusion bedeutet ergo für solche SchülerInnen eine echte Chance. Neueren Schätzungen zufolge sind etwa 10 Prozent der deutschen Bevölkerung behindert, der größte Teil gilt sogar als schwerbehindert. Geistige oder andere Behinderungen, die mit einem verminderten Intellekt einhergehen, machen dabei nur einen verschwindend geringen Anteil aus. Trotzdem haben nur sehr wenige Behinderte – trotz der passenden Voraussetzungen – Abitur, geschweige denn einen Hochschulabschluss. Wer im Rollstuhl sitzt, blind oder gehörlos ist oder unter einer psychischen Beeinträchtigung leidet, muss in Deutschland für sein Recht auf Bildung kämpfen. Welche Möglichkeiten und Rechte behinderte Abiturienten haben, um das Wunschstudium absolvieren zu können, zeigt der kostenlose Ratgeber „Studieren mit Behinderung“ [Download].
Herausforderung Inklusion
Inklusion – keinesfalls zu verwechseln mit Integration – ist nicht nur in NRW absolutes Neuland. Es gibt nur wenige Erfahrungswerte mit dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Schülern. Einige wenige Grundschulen arbeiten bereits seit Jahrzehnten inklusiv, kommen jedoch in der erhitzten öffentlichen Debatte kaum zu Wort. Das Bildungsministerium in Mecklenburg-Vorpommern hat unter der Schirmherrschaft des Bildungsministers Matthias Brodkorb eine Studie in Auftrag gegeben, die die Auswirkungen inklusiven Lernens genau untersuchen sollte. Das Projekt „Rügener Inklusionsmodell“ läuft bereits seit 2010 und wird von Wissenschaftlern der Universität Rostock betreut. 12 Grundschulen auf der Insel Rügen nehmen an diesem Projekt teil, beschult werden Regelkinder sowie behinderte Kinder – zum Teil auch mit Einzelbetreuung – gemeinsam. Mittlerweile können sich die Ergebnisse sehen lassen. Das Rügener Modell zeigt, wie Inklusion funktionieren kann. Inklusion ist allerdings nicht zum Nulltarif zu haben. Für die Beschulung behinderter oder anderweitig beeinträchtigter Kinder ist die Einstellung zusätzlicher Fachkräfte notwendig, wobei sich etwa das System, dass stets ein Regelschullehrer und ein Sonderschullehrer gemeinsam unterrichten, bewährt hat. Als Sparmaßnahme eignet sich die inklusive Schule nicht. Des Weiteren bietet Mecklenburg-Vorpommern seinen Lehrkräften eine insgesamt vierjährige Fortbildung an, um Regelschullehrer fit für die Herausforderungen des inklusiven Alltags zu machen.
Das Aus des dreigliedrigen Schulsystems?
Behinderung ist nicht gleich Behinderung – und viele Beeinträchtigungen sind als solche nicht auf den ersten Blick erkennbar. Vielen Regelschullehrern fehlt die Erfahrung, um eine Behinderung als solche zu erkennen – und das Wissen, wie mit einer solchen adäquat umgegangen wird. Ein Schüler mit einer körperlichen Beeinträchtigung, aber den entsprechenden kognitiven Voraussetzungen kann sehr wohl das Abitur an einem normalen Gymnasium machen – derzeit kommt dies allerdings nur sehr selten vor. Bei Fällen wie denen des kleinen Henri, der trotz Down Syndrom aufs Gymnasium sollte, bekommen viele Eltern Bauchschmerzen. Bedeuten derartige Fälle, dass das dreigliedrige Schulsystem vor dem Aus steht? Nun, in Deutschland wird das Gymnasium sicherlich nicht so schnell zu Fall kommen – allerdings ist es auch fraglich, wie sinnvoll dieses separierende Schulsystem überhaupt noch ist. Mittlerweile macht fast die Hälfte eines Jahrgangs das Abitur, vor zwanzig Jahren bewegten sich diese Zahlen im Bereich zwischen 15 bis 20 Prozent. Aus der Eliteschmiede Gymnasium ist längst eine Regelschule geworden. Die Frage, vor der unsere Gesellschaft nun steht, ist diese: Wollen wir das starre System weiter behalten oder wollen wir eine tatsächliche Chance für alle Menschen? Übrigens bedeutet diese Chance nicht Gleichmacherei, sondern lediglich, dass jeder die Möglichkeit erhält, sich gemäß seinen Fähigkeiten zu bilden – ob nun geistig behindert oder hochbegabt. Inklusion kann gelingen, wenn alle an einem Strang ziehen – und sich nicht verunsichern lassen.